Erforschung unterseeischer Wälder in den Fjorden Patagoniens
Vreni Häussermann
Sie trotzt Stürmen, Technikproblemen, der Abgeschiedenheit, Unannehmlichkeiten und Gefahren. Vreni Häussermann bringt in wissenschaftlicher Forschertradition Licht ins Dunkel der versteckten Welt der eisigen Gewässer einer der abgelegensten Regionen der Erde, dem Süden Patagoniens.
Die düsteren Unterwasserwälder, ungeahnten Korallenriffe und bizarren Seefächer-Wiesen offenbaren sich der Preisträgerin der Rolex Preise für Unternehmungsgeist 2016 nach und nach in den Tiefen der patagonischen Fjorde, wo das Tageslicht in tiefschwarze Finsternis getaucht wird.
Seit fast einem Vierteljahrhundert taucht Häussermann, um die Fauna und Flora der südlichen Tiefen zu finden, zu klassifizieren und zu schützen. Dabei hat sie ganze neue Ökosysteme und Arten entdeckt.
Mit seinen eindrucksvollen Landschaften, seinem rauen Klima und seinen eisigen Gewässern erweist sich Patagonien – an der Südspitze von Südamerika gelegen – erstaunlicherweise als ein Ballungsraum von Leben auf der Erde. Es ist überwältigend. „Das Gebiet des chilenischen Patagoniens erstreckt sich über eine riesige Fläche. Wenn man die Küste abmisst, kommt man auf über 100.000 Kilometer. Dies entspricht mehr als dem zweifachen Umfang der Erde. Daher können wir selbst nicht die gesamte Region erforschen“, erklärt die deutsch-chilenische Biologin.
In den ersten 20 Jahren ihrer Forschungsarbeit musste sich Häussermann auf die oberen 30 Meter beschränken, die für Gerätetaucher zugänglich sind. Der Rolex Preis ermöglichte ihr den Einsatz eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs, das bis zu 500 Meter hinabtauchen kann, wenn nicht sogar bis 1000 Meter. Mit dieser Ausrüstung setzte sie ihre Vorstöße in neue Gefilde fort. Dadurch entstanden spektakuläre Videos, Bilder und Bücher, in denen die farbenfrohen, fremdartigen Wesen dieser kalten, dunklen Gewässer dargestellt sind. Und diese wiederum unterstützen ihre Kampagne für Meeresschutzgebiete (Marine Protected Areas, MPAs), um deren Wunder zu bewahren.
Sie schätzt, dass bisher circa 70 neue Arten identifiziert wurden; 100 bis 200 weitere werden derzeit wissenschaftlich untersucht und sollen klassifiziert werden. Drei neue Seeanemonen wurden nach ihrem Ehemann und ihren Kindern benannt. Die neuen Arten, zu denen Tiefseekorallen und Seeanemonen gehören, werden in ihrem Buch vorgestellt: Marine Benthic Fauna of Chilean Patagonia: an Illustrated Identification Guide (Fauna des Gewässerbodens im chilenischen Patagonien: eine illustrierte Identifizierungsanleitung).
„Für mich ist der chilenische Teil Patagoniens der schönste Ort der Welt, wenn man dort tauchen geht und all die Schönheit und Farben sieht“, so Häussermann.
Allerdings bekommt man auch hier, in einer der letzten Wildnisse des Planeten, die Auswirkung menschlicher Aktivität deutlich zu spüren. Fischfang, Fischzucht, Verschmutzung, Sauerstoffentzug und die Erderwärmung richten langsam aber sicher verheerende Schäden an. „In nur zehn Jahren nahm das Vorkommen einiger der vorherrschenden Arten um 75 Prozent ab“, betont sie. „Wir möchten [in der Welt] ein Bewusstsein darüber schaffen, was passiert, welche Veränderungen sich durch die Einwirkung des Menschen vollziehen.“
Sobald wir beginnen, etwas zu verändern und etwas wegzunehmen, stören wir das Gleichgewicht. Deshalb ist es wirklich wichtig, die Folgen unseres Handelns zu begreifen.
„Sobald wir beginnen, etwas zu verändern und etwas wegzunehmen, stören wir das Gleichgewicht. Deshalb ist es wirklich wichtig, die Folgen unseres Handelns zu begreifen. Dies können wir nur, wenn wir das Ökosystem verstehen – und das Ökosystem ist ein Gefüge aus sehr vielen Arten.“
Häussermann konzentrierte sich zunächst auf die Sammlung und die Identifizierung der Lebensformen in den patagonischen Fjorden. Daraus entstanden nach und nach die Kartierung ganzer neuer Ökosysteme und die Identifizierung bedeutender unberührter Gebiete als wissenschaftliche Referenzen, wo die Auswirkungen menschlicher Aktivität messbar sind.
„Wir haben elf wirbellose Arten gefunden, die verschiedene Habitate in Patagonien bilden“, erinnert sie sich. „Diese Habitate nennt man Seetierwälder, da sie so sehr einem Wald auf dem Land gleichen. Der Wald ist eine dreidimensionale Struktur, die von einigen Tieren gebildet wird und in der andere Tiere leben, sich aufhalten, sich ernähren und Schutz finden können. Jeder dieser Seetierwälder ist tatsächlich ein neues Ökosystem, und zwar beispielsweise ein Korallenriff, oder auch eine Seefächer‑Wiese.“
Die Vorstellung, dass Korallenriffe in frostigen Gewässern und bei Dunkelheit bestehen, stellt das allgemeine Verständnis der Meeresbiologie in Frage und eröffnet neue Einsichten in die Widerstandsfähigkeit von Korallen und deren Fähigkeit, Einflüsse wie den Klimawandel zu überleben.
Das chilenische Patagonien ist ein Hotspot der Biodiversität und benötigt eindeutig Schutz.
Damit diese Ökosysteme auch in Zukunft fortbestehen, setzt sich Häussermann seit fast 20 Jahren für die Erstellung eines Netzwerks von mindestens 25 Meeresschutzgebieten in den Fjorden Patagoniens ein. Momentan gibt es zehn Meeresschutzgebiete verschiedener Größe, von denen nur zwei streng geschützt sind, und in den meisten ist die Lachszucht gestattet.
Häussermann sagt, dass Modelle, bei denen ozeanografische Daten und die Verteilung bekannter Arten berücksichtigt werden, es ermöglichen, die besten Stellen für Meeresschutzgebiete zu bestimmen. „Wir zeigen dieses Daten-, Foto- und Videomaterial anderen Wissenschaftlern, der Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern, um ihnen begreiflich zu machen, dass das chilenische Patagonien ein Hotspot der Biodiversität ist und eindeutig Schutz benötigt.“
Aufgrund einer Reduzierung der Lachszucht in den Fjorden in letzter Zeit sowie der Unterstützung einheimischer Gemeinden ist sie nun zuversichtlicher, dass die chilenische Regierung zustimmt.
In dieser Hinsicht leistet Häussermann einen Beitrag zur Initiative Perpetual Planet von Rolex zur Erforschung der letzten Wildnisse der Erde. Diese enthüllt deren unentdeckte Wunder und strebt danach, sie für künftige Generationen zu erhalten.